Hamburg Marathon 2011

 

So ein Marathon ist eine wirklich hochemotionale Sache. Glaubt mir, ich habe es am Sonntag selbst erlebt.


Ganz hanseatisch-nüchtern betrachtet ist es schon ein bisschen mehr als verrückt, über 840 km seit Jahresbeginn zu laufen, nur um im Mai weitere 42 km im hinteren Läuferfeld zu schaffen, ganz ohne Aussicht auf irgendeine tolle Platzierung und eine Medaille aus Blech an einem roten Band mit nach Hause nehmen zu wollen, die jedem Nichtläufer völlig egal ist und wertlos erscheint. Aber was soll ich sagen, genau DIESE Medaille wollte ich haben. Ich wollte es schaffen, unbedingt.

 

Nun sitze ich hier, lasse den Lauf wieder und wieder an meinem inneren Auge vorüberziehen, lese die Blogs, die bereits im Netz sind zum x-tenmal. Meine Oberschenkel haben einen sagenhaften Muskelkater entwickelt, der mich allerdings nicht im Geringsten stört, sondern mir immer wieder ein breites Freudegrinsen ins Gesicht lockt (noch komme ich vorwärts die Treppen herunter).

 

Völlig ungeplant bot Markus mir irgendwann im Frühjahr seine Hasendienste an. Zuerst dachte ich, er hätte sich vertan, schließlich bin ich eine Laufschnecke und gehöre mit Sicherheit nicht zu diesen schnellen Rasern und vor Kraft strotzenden (aber sehr netten) Kilometerfressern aus unserer SH-Gruppe. Außerdem kannte ich ihn doch gar nicht persönlich, sondern nur aus dem Forum; eine dicke Portion Skepsis machte sich in mir breit. Diese Skepsis war völlig unbegründet. Denn schon beim Probelaufen zu dritt im Alstertal hatten wir viel Spaß miteinander.

 

Da ich in der Woche vor meinem DNF-Stadtparkmarathon im vergangenen Jahr so unglaublich nervös war, habe ich mich kurzerhand eine Woche vor dem HH-Start in den Urlaub verzogen. Dort war ich noch die Ruhe in Person, was sich am Sonntagmorgen in Hamburg allerdings gründlich geändert hat.

An einer U-Bahn-Station, an der wir umsteigen, fällt mir auf, dass nur Männer mit einem Chip an den Schuhen und den weißen Kleiderbeuteln herum laufen. Frauen, wo seid ihr? Ihr könnt mich doch nicht allein lassen! Das geht nicht! So ein Marathon ist doch keine reine Männersache! Nach und nach trudeln dann doch vereinzelte weibliche Läuferexemplare ein. Glück gehabt...


An unserem Gruppentreffpunkt angekommen, finde ich Jutta und Reinhard gemütlich bei einer Tasse Kaffee sitzend. Habe ich jemanden vergessen? Sorry, ich bin sooooo schrecklich aufgeregt! Nach und nach treffen alle anderen ein, schnell noch ein paar Fotos gemacht und schon geht´s Richtung Veranstaltungsgelände.

 

Vor dem Start stehe ich zwischen einem großen Hasen (Markus) und einem einem weiteren Igel (Micha), riesig wie ein Bär, ich dazwischen klein wie ein Keks. Meine innere Spannung steigt „Was das wohl wird?“.


Aber als wir endlich loslaufen dürfen, zeigt der Hase sofort seinen Igeln Wege durch die Massen, warnt vor Straßeninseln, gibt kurze Anweisungen wie „rechts halten“ zum Glück mit passender Armbewegung (wo bitte ist denn bloß rechts?). Das gibt mir Sicherheit, schafft Vertrauen. Im dicksten Gewühl läuft Markus direkt vor mir, ich muss einfach nur an seinen Fersen bleiben und brauche mich um nichts, um rein gar nichts zu kümmern. Mein Job besteht aus Laufen und Atmen, das ist alles.

 

Ich frage mich nur, woher Markus weiß, wann mein auf langen Strecken empfindlicher Magen irgendeine Art von Bestechung braucht. Ein kurzes Umgraben der Hasentransporttasche und schwuppdiwupp bekomme ich ein halbes Magenberuhigungsbrötchen zum Knabbern.


Die Getränkeversorgung durch Markus klappt hervorragend. An den Wasserstellen läuft Markus vor, greift sich zwei Becher und reicht sie an uns weiter. Welch ein Service!

Mir war in meinem bisherigen Leben noch nie so bewusst, wie herrlich es ist, meine Arme tief in Wannen mit kaltem Wasser zu tauchen. Irgendwann ist es so warm, dass ich mir – bekennend wasser- und regenscheu – das kühlende Nass ins Gesicht schaufle. Herrlich! Wie gut, dass so ein Hase aufpasst, dass die Motoren der Igel nicht heißlaufen.

 

Irgendwann kehren wir kurz bei der direkt an der Laufstrecke wohnenden Mutter von Markus ein. Sehr gut – es gibt ein wenig Schatten. Sie versorgt mich rührend mit Vaseline, einer Apfelschorle und einer frischen Scheibe Ciabatta. Vielen Dank dafür, das sind Gesten, die ich nie vergessen werde!

 

Wann wir wo sind, darauf achte ich nicht. Ich will endlich ein Schild sehen, auf dem mindestens der 30. Kilometer angezeigt wird. Ich merke, dass ich nicht mehr so entspannt laufe wie ganz zu Anfang. Es stört mich nicht. Ich denke „Heute ist mein Tag, heute schaffe ich es bis zum Ziel.“ Wir laufen und laufen, zu zweit, zu dritt oder zu viert, gerade so, wie es kommt. An den Wasserstellen gehen wir, trinken, kühlen wieder und wieder die Arme.
Micha fällt zurück, schließt wieder auf, fällt zurück… Innerlich drücke ich ihm die Daumen, dass sein Knie bis ins Ziel durchhält. Er hält sich so tapfer! Sagen kann ich es nicht; ich bin ein braver Igel und schweige still. Zumindest meist.

 

Auch die Zuschauer zeigen ein außerordentliches Durchhaltevermögen. Welch ein Gefühl, wenn wir an dicht gedrängten Menschenmassen vorüberlaufen. Sie lärmen und klatschen, drehen unermüdlich Ratschen und andere Dinge. Klatschen für völlig fremde Menschen, feuern uns an, rufen uns bei unseren Namen. Danke dafür! Welch eine Atmosphäre!

 

Mich erwischt Übelkeit, etwas später Seitenstechen. Nein, das muss nicht sein, nicht jetzt, nicht hier und heute schon gar nicht. Ich muss gehen. Was will mein Bauch? Markus fragt mich, ich frage meinen Magen, der schweigt sich aus. Ok du Bauch, wenn du die Antwort verweigerst, gibt es eben gar nichts. Ein Stückchen gehen wir, dann kann ich wieder loslaufen. Ich will ins Ziel, unbedingt in dieses Ziel, das ich gestern gesehen habe und zwar möglichst bald! Ich weiß, wir drei werden es schaffen.


Mittlerweile gibt es viele Fußgänger auf der Strecke. Einige sehen wirklich elendig aus und mich beschleicht Mitleid. Ich kann mich so gut an meine Wut und die Traurigkeit erinnern, mit der ich meinen ersten Marathon-Versuch nach 34 Kilometern abgebrochen habe. Sowie ich nicht mehr laufen kann, mein Magen zickt noch immer, bremst Markus sofort ab. Ich bin so froh, nicht allein unterwegs zu sein, wir sind ein super Team.

 

Kurz vorm Kilometer 41 meint unser Hase „Auf dem letzten Kilometer wird nicht mehr gegangen.“. Ich bin so fertig und mein rechtes Knie rebelliert schon ein Weilchen. Meine spontane Reaktion „Ok, aber dann jetzt“ und schon gehen wir die nächsten 50 Meter, laufen dann wieder an. Sorry Markus, dass ich Dir die Wunschzielzeit(en) geschreddert habe, unter fünf Stunden wäre ich eigentlich auch gern angekommen, nur in dem Moment war es mir wirklich völlig egal.

 

Ich will es nicht, aber während des letzten Kilometers muss ich doch noch einmal ein paar Schritte gehen; ich kann nicht mehr, meine Kraft ist ziemlich am Ende, aber dann sehe ich den Zielbogen. Allein diese vier schwarzen Buchstaben „Z I E L“ auf der weißen Plane reichen, damit ich wieder laufe. Genau dort will ich mit jeder Faser meines Körpers hin.
Welch ein Applaus, Tröten, Klatschen und Lärmen um uns herum! Das Gefühl in meinem Bauch ist unbeschreiblich. Als erstes entdeckte ich Jutta und Volker – super, das ihr da seid! Eine unsägliche Freude breitet sich in mir aus. Jetzt bloß nicht heulen, dann geht das Atmen so schwer.

Plötzlich reicht die Kraft wieder, um auch noch die Arme weit in die Luft zu strecken. Unser Laufhase macht seinem Namen alle Ehre, rennt vor, macht Fotos und – das letzte Bröckchen des Brotes, das ich von der netten Hasenmutter bekommen hatte, noch immer fest in der linken Hand – laufen wir zeitgleich, Markus rückwärts, ich mit erhobenen Daumen und vorwärts, durch das Ziel. Welch ein wahnsinnig tolles Gefühl – ich habe die Strecke geschafft! 42,195 Kilometer durch meine Heimatstadt liegen hinter mir.

 

In Blitzesschnelle gibt mir Markus seinen Laufchip, um zurück zu Micha zu laufen; ich will eigentlich am Rand auf die beiden warten. Plötzlich wird mir ganz schwindelig, also gehe ich langsam weiter in Richtung des Läuferdorfes, auf dem Weg dorthin bekomme ich meine Medaille. Immer in Bewegung bleiben, bloß nicht umfallen, ein paar Sanitäter beäugen mich schon prüfend.
Kurz darauf sind die zwei Jungs auch da und wir gehen in Richtung Kleiderbeutelausgabe. Nun habe ich wirklich Pipi in den Augen, obwohl ich es nicht wollte; ich bin so glücklich, die Strecke geschafft zu haben! Jetzt bin ich auch eine Marathoni; ein Glückskind des Lebens bin ich sowieso.

 

Tausend Dank an Markus für die tolle Begleitung und den unvergleichlichen Rundumservice. Es war mir eine Ehre, mit Dir laufen zu dürfen! Diesen Tag werde ich niemals vergessen.

 

(Bericht: Gina Göbel)

 

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Markus Münster.


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